Die Union hat fertig
Sackgasse und Zerreißprobe
Wenige Wochen vor der Bundestagswahl am 23. Februar sieht sich die CDU/CSU mit Friedrich Merz an der Spitze in einer Zwickmühle, die sich immer weiter zuspitzt. Die anfängliche Strategie, das Land mit alarmistischen Schlagzeilen über Migration in Atem zu halten, hat sich zwar kurzfristig medienwirksam ausgewirkt. Doch dabei geriet eine ganze Palette drängender Zukunftsfragen – vom Pflegenotstand über den Fachkräftemangel bis zur Digitalisierung – ins Abseits. Ungewöhnlich laut kritisieren inzwischen nicht nur politische Gegner, sondern auch langjährige Unionswähler die Engführung auf das Thema Migration. Während rechte Populisten von diesem Kurs profitieren, drohen gemäßigte Stimmen abzuwandern. An den meisten Umfrageinstituten ist erkennbar, dass die CDU/CSU selbst im bürgerlich-konservativen Lager zunehmend an Vertrauen verliert.
Prominente Abkehr – ein Kurs ohne Rückhalt?
Michel Friedman sorgte mit seinem Austritt aus der CDU für Schlagzeilen. „Der öffentliche Diskurs rutscht in einen Populismus ab, der der Union nicht würdig ist“, erklärte er in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau. Ähnlich drastisch äußerten sich Holocaust-Überlebende, die den Bruch mit einer Partei suchten, die sie einst als Bollwerk gegen jeglichen Extremismus ansahen. Einer von ihnen, der aus Protest sein Bundesverdienstkreuz zurückgab, begründete das mit einem „geschichtsvergessenen Agieren“, das alarmiere: Wer rechtspopulistische Narrative aufgreife, um kurzfristig Wählerstimmen zu fangen, ignoriere die moralischen Verpflichtungen, die sich aus der deutschen Vergangenheit ergeben.
Auch Angela Merkel, über viele Jahre eine zentrale Identifikationsfigur der Union, ging auf Distanz. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung erinnerte sie daran, dass christlich-demokratische Politik stets Komplexität aushalten und Brücken bauen müsse – zu den Menschen und auch zu europäischen Partnern. „Wir dürfen nicht zulassen, dass die Seele der Partei von bloßen Abwehrreflexen bestimmt wird“, so ihre ungewöhnlich deutliche Mahnung. Kirchenvertreter verschiedener Konfessionen warnten in einer gemeinsamen Erklärung, die CDU/CSU laufe Gefahr, „ihr historisches Erbe der Aussöhnung und Integration zu verspielen“.
Die Instrumentalisierung von Gewalt
Überdeutlich wird die Schieflage, wenn schwere Gewalttaten für Wahlkampfzwecke politisch instrumentalisiert werden. Mehrfach verwiesen Friedrich Merz und seine Parteikollegen in Talkshows und auf Wahlveranstaltungen auf jüngste Fälle in Magdeburg und Aschaffenburg, um schärfere Grenzkontrollen und eine verschärfte Asylpolitik zu rechtfertigen. In der öffentlichen Wahrnehmung entsteht so der Eindruck, als ob importierte Kriminalität die Hauptbedrohung darstelle. Aktuelle Daten des Bundeskriminalamts zeigen hingegen, dass bei schweren Gewaltdelikten – von Körperverletzung bis hin zu Tötungsdelikten – Deutsche weiterhin den größten Anteil der Tatverdächtigen ausmachen.
Noch brisanter: In mehreren Fällen, die die Unionsspitze zum Anlass ihrer Debatten machte, kamen Behördenversagen und mangelnde Koordination zwischen Polizei, Jugendämtern und Justiz als zentrale Faktoren ans Licht. Recherchen von Spiegel und verschiedenen ARD-Magazinen zeigen, wie häufig personelle Engpässe, Bürokratie und fehlende Datenvernetzung verhängnisvolle Lücken reißen. Doch anstatt diese Missstände in den Fokus zu rücken und Reformen zu fordern, setzt die CDU/CSU lieber auf symbolische Gesten: Festung Europa, Zäune an den Grenzen, verkürzte Asylverfahren.
Die verdrängte Bedrohung von rechts
Parallel dazu wird die wachsende Gefahr rechtsextrem motivierter Gewalttaten nur rudimentär oder gar nicht thematisiert. Das Bundesamt für Verfassungsschutz registriert seit Jahren steigende Zahlen an Übergriffen durch extrem rechte Gruppen oder Einzeltäter. Die jüngsten Anschläge von Hanau, Halle und Kassel haben auf schreckliche Weise vor Augen geführt, dass rassistische und rechtsextreme Ideologien in Deutschland längst wieder zu tödlichen Bedrohungen geworden sind. In diesem Kontext erscheinen die ständigen Appelle der Union an mehr Härte gegen „unerwünschte Migration“ wie eine unausgewogene Prioritätensetzung. Während die Parteiführung auf jeden Vorfall mit mutmaßlichen ausländischen Tätern erbost reagiert, bleiben die Rufe nach entschiedenem Vorgehen gegen Neonazi-Strukturen auffällig verhalten.
Diese Einseitigkeit ist nicht nur politisch fragwürdig, sondern auch gefährlich: Wer selektiv Empörung schürt, verschiebt den gesellschaftlichen Fokus und stabilisiert die Idee, dass Migranten das Hauptproblem seien. Rechtsextremisten können sich bestärkt fühlen, wenn ihre Sichtweise – Migration als Wurzel aller Gewalt – fast unhinterfragt in den Mainstream hineinstrahlt. Politische Psychologen wie Prof. Andreas Zick weisen in Studien darauf hin, dass die Verengung der Diskussion auf ein einzelnes Feindbild die Gesellschaft spaltet und radikalen Akteuren Auftrieb gibt.
Die AfD als lachender Dritter
Aktuelle Umfragen, veröffentlicht von Instituten wie Infratest dimap und Forsa, zeigen, dass die AfD von der verengten öffentlichen Debatte profitiert. Sie inszeniert sich als „eigentliche Stimme“ jener Grenzpolitik, die die Union nun übernimmt. Während Merz und seine Parteistrategen versuchen, verlorene Stammwähler zurückzugewinnen, stärken sie durch ihre Rhetorik paradoxerweise das Original. Je näher CDU/CSU und AfD in ihrer Sprache rücken, desto mehr normalisieren sich die radikalen Positionen der Rechtspopulisten. Langfristig droht eine Verschiebung des sogenannten Overton-Fensters: Themen und Forderungen, die noch vor Jahren tabuisiert oder streng abgelehnt wurden, werden plötzlich salonfähig. Das wiederum mindert die Fähigkeit der Union, sich glaubwürdig von extremen Haltungen abzugrenzen.
Philosophische Fundamente der Demokratie
Die derzeitige Strategie der CDU/CSU lässt sich auch im Licht philosophischer Überlegungen zu Freiheit und Vielfalt kritisch beleuchten. Hannah Arendt erinnerte in ihren Analysen an die Gefahr, dass sich demokratische Gesellschaften im Krisenmodus allzu leicht in autoritäre Versuchungen flüchten. Karl Jaspers warnte vor dem Irrglauben, die Antwort auf komplexe Probleme bestünde in einfachen Grenzlinien zwischen „innen“ und „außen“. Wer Migration als Sündenbock für soziale oder wirtschaftliche Missstände nutzt, verstellt den Blick auf eigentliche Ursachen, soziokulturelle Zusammenhänge und langfristige Strukturpolitik. Letztlich steht auch die Fähigkeit einer offenen Gesellschaft auf dem Prüfstand, konstruktive Lösungen zu finden, statt sich in Schwarz-Weiß-Bildern zu verlieren.
Kurze Rückbesinnung oder Kurswechsel?
Innerhalb der Union wird hinter den Kulissen bereits getuschelt, ob ein radikaler Schritt – etwa die Ablösung des Kanzlerkandidaten – die drohende Wahlschlappe abwenden könnte. Doch kaum jemand hat Illusionen: Der Zeitpunkt ist reichlich spät. Ein Kandidatenwechsel dürfte die Partei in ein organisatorisches und inhaltliches Chaos stürzen. Darüber hinaus ist der Merz-Kurs längst mehr als nur eine Personalfrage. Der Druck großer Teile der Basis, im Wettstreit mit der AfD endlich „klare Kante“ zu zeigen, hat das Klima in der Partei tiefgreifend verändert. Überlegene Sachpolitik, die einst ein Markenzeichen der CDU/CSU war, gerät in den Hintergrund, während empörte Debatten über „Asylmissbrauch“ und „Grenzchaos“ die Schlagzeilen dominieren.
Zwischen Charakterprobe und Machttaktik
Merz’ Vorgehen stellt auch eine Charakter- und Gewissensfrage für die Partei dar. Wer die aktuellen Vorgänge nüchtern analysiert, erkennt die Widersprüche: Einerseits will die CDU/CSU ihre Rolle als staatstragende Kraft betonen, andererseits bedient sie Rhetorik und Narrative, die viele an AfD-Parolen erinnern. Schwere Gewalttaten dienen zur Stimmungsmache, während unliebsame Fakten ausgeblendet werden. Einseitige Zuspitzungen verdrängen die differenzierte Betrachtung – etwa die Rolle von Behördenfehlern oder den hohen Anteil rechtsextremer Gewalt im Land. Das moralische Dilemma verschärft sich, sobald ein Christdemokrat versucht zu erklären, warum es in Ordnung sein soll, mit immer neuen Grenzfahndungs- und Abschreckungsszenarien zu hantieren, anstatt an tief greifenden Reformen im Bildungs-, Gesundheits- oder Sicherheitssektor zu arbeiten.
"Endgame" für Merz und die Union
Friedrich Merz steht damit im Zentrum eines Wahlkampfs, der seiner Partei mehr schadet als nützt. Prominente Austritte, die Distanzierung von Angela Merkel, harsche Kritik aus den Kirchen und offenen Briefen, eindringliche Proteste auf den Straßen – all das hinterlässt ein Bild von einer ehemals integrativen Volkspartei, die sich nun in Abwehrgesten verliert. Die oft beschworene „staatspolitische Verantwortung“ wirkt verblasst, während ein lauter, einseitiger Populismus die Schlagzeilen diktiert. Bei der Bundestagswahl mag sich zeigen, dass sich dieser Kurs weder pragmatisch noch moralisch rentiert. Weder gelingt eine wirkliche Auseinandersetzung mit den vielfältigen Problemen des Landes, noch kann die CDU/CSU glaubwürdig als Bollwerk gegen extremistische Tendenzen auftreten. Merz hat damit tatsächlich fertig: Ein hoffnungsvoll gestartetes Projekt droht zu einem politisch-ethischen Scherbenhaufen zu werden – für die Union und, in ihrer Konsequenz, für eine demokratische Kultur, die dringend auf verantwortungsvolle Lösungen angewiesen ist.